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Рассказ «Человек с рассечённой губой» (Der Mann mit dem schiefen Mund) на немецком языке

Книга «Человек с рассечённой губой» (Der Mann mit dem schiefen Mund) на немецком языке, автор – Артур Конан Дойль. Рассказ «Человек с рассечённой губой» (Der Mann mit dem schiefen Mund) входит в самый известный сборник Артура Конан Дойля «Приключения Шерлока Холмса» (рассказы о лондонском сыщике стали очень популярными среди читателей Великобритании и других стран, а позже были переведены на многие самые распространённые языки мира).

Остальные рассказы и повести, которые написал Артур Конан Дойль, а также различные литературные произведения других известных писателей вы найдёте в разделе «Книги на немецком» (для детей есть раздел «Сказки на немецком»).

Для тех, кто самостоятельно изучает немецкий по фильмам, создан раздел «Фильмы на немецком языке», а детей заинтересует раздел «Мультфильмы на немецком».

Для тех, кто хочет учить немецкий язык не только самостоятельно, но и с преподавателем, есть информация на странице «Немецкий по скайпу».

 

Теперь возвращаемся к чтению рассказа «Человек с рассечённой губой» (Der Mann mit dem schiefen Mund) на немецком языке, автор книги – Артур Конан Дойль.

 

Der Mann mit dem schiefen Mund

 

Ist Whitney, ein Bruder von D. D. Elias Whitney, des verstorbenen Rektors des Theologischen Kollegs von St. George, war stark opiumabhängig. Die Gewöhnung war, soviel ich weiß, von einer törichten Studentenlaune ausgegangen, nachdem er de Quincys Beschreibung der eigenen Träume und Empfindungen gelesen hatte. In der Absicht, dieselben Wirkungen hervorzurufen, tränkte er seinen Tabak mit Laudanum. Er machte, wie viele andere auch, die Erfahrung, daß es leichter ist, damit anzufangen als aufzuhören, und so wurde er über viele Jahre Sklave des Rauschgifts und für seine Freunde und Verwandten ein Gegenstand des Abscheus und des Mitleids. Ich sehe ihn noch vor mir, mit gelbem, aufgedunsenem Gesicht, schlaffen Lidern, nadelkopfkleinen Pupillen, in einen Sessel gekauert: das Wrack eines noblen Mannes. Eines Abends, es war im Juni 1889, läutete es an meiner Tür, ungefähr zu der Stunde, da man das erstemal gähnt und zur Uhr sieht. Ich setzte mich im Sessel auf, und meine Frau legte ihre Handarbeit in den Schoß und zog ein enttäuschtes Gesicht.

"Ein Patient", sagte sie. "Du wirst noch fortgehen müssen."

Ich seufzte, denn erst kurz zuvor war ich von einem anstrengenden Tag nach Hause gekommen. Wir hörten die Tür gehen, einige wenige hastige Worte, dann schnelle Schritte auf dem Linoleum. Die Tür flog auf, und eine dunkel gekleidete, schwarzverschleierte Dame betrat das Zimmer. "Entschuldigen Sie bitte meinen späten Besuch", sagte sie, und dann, plötzlich ohne Selbstbeherrschung, stürzte sie vor, warf meiner Frau die Arme um den Hals und schluchzte an ihrer Schulter.

"Oh", rief sie, "ich habe so entsetzlichen Kummer! Ich brauche so sehr ein bißchen Hilfe."

"Ja, aber", sagte meine Frau und schob ihr den Schleier hoch, "das ist doch Kate Whitney. Wie hast du mich erschreckt, Kate! Ich hatte keine Ahnung, daß du es warst, die hereinkam."

"Ich wußte mir nicht mehr zu helfen, so ging ich geradewegs zu euch." So war das immer. Leute mit Kummer flogen meiner Frau zu wie dem Leuchtturm die Vögel. "Es ist lieb von dir, daß du gekommen bist. Du mußt erst einmal einen Schluck Wein und Wasser trinken, dich bequem hier hinsetzen und uns dann alles erzählen. Oder soll ich lieber James zu Bett schicken?"

"O nein, nein. Ich möchte auch den Rat und die Hilfe des Doktors. Es geht um Isa. Er ist seit zwei Tagen nicht zu Hause gewesen. Ich habe solche Angst um ihn!"

Sie erzählte uns nicht zum erstenmal von den Schwierigkeiten, in denen sich ihr Mann befand, mir als dem Arzt, meiner Frau als der alten Freundin aus der Schulzeit. Wir trösteten und beruhigten sie mit Worten, die uns gerade einfielen. Wußte sie, wo ihr Mann war? Konnten wir ihn zurückbringen? Es schien so. Sie hatte sichere Nachricht, daß er im Rausch seit kurzem eine Opiumhöhle im äußersten Osten der Stadt aufsucht. Bis jetzt hatten seine Orgien immer nur einen Tag gedauert, und er war, grimassierend und zerrüttet, am Abend zurückgekommen. Nun aber dauerte der Anfall schon achtundvierzig Stunden und zweifellos wälzte er sich jetzt im Dreck der Docks, das Gift inhalierend oder seinen Rausch ausschlafend. Dort, in der ›Bar of Gold‹ in der Upper Swandam Lane, mußte er zu finden sein, dessen war sie gewiß. Aber was sollte sie machen? Wie konnte sie, eine junge, ängstliche Frau, in solch eine Räuberhöhle gehen und ihren Mann herausholen? So lagen die Dinge und es gab natürlich nur einen Ausweg. Sollte ich sie nicht zu der Kaschemme begleiten? Und, zweiter Gedanke: Mußte sie überhaupt mitgehen? Ich war Ist Whitneys Hausarzt und hatte als solcher Einfluß auf ihn. Ich würde es allein besser schaffen. Ich versprach ihr fest, ihn innerhalb von zwei Stunden mit einer Droschke nach Hause zu schicken, wenn er wirklich war, wo sie ihn vermutete. Und so hatte ich zehn Minuten später meinen Sessel und mein freundliches Wohnzimmer verlassen und eilte in einem Hansom ostwärts, in einer, wie mir zu diesem Zeitpunkt schien, sonderbaren Mission, aber es sollte sich erst erweisen, wie sonderbar sie in Wirklichkeit war. Im ersten Abschnitt meines Abenteuers begegnete ich keinen großen Schwierigkeiten. Die Upper Swandam Lane ist eine abscheuliche Gasse, die sich hinter den hohen Werften an der Nordseite des Flusses bis zur London Bridge hinzieht. Versteckt zwischen einer Altkleiderhandlung und einem Ginausschank, am Fuß einer steilen, in einen Abgrund führenden Treppe, entdeckte ich die gesuchte Opiumhöhle. Ich befahl dem Kutscher zu warten, stieg die Stufen hinunter, die in der Mitte von den Tritten Trunkener abgewetzt waren, fand im Licht einer flackernden Öllampe über der Tür die Klinke und betrat einen niedrigen, langen Raum, in dem die Luft dick und schwer vom braunen Opiumrauch war und an dessen Seiten sich wie auf dem Vordeck eines Auswandererschiffes etagenweise hölzerne Kojen hinzogen. Im Halbdunkel konnte ich nur schwach die Umrisse von Körpern erkennen, die in seltsamen, phantastischen Stellungen lagen, gekrümmte Schultern, angezogene Knie, zurückgeworfene Köpfe, deren Kinne nach oben wiesen; hier und da ein dunkles, glanzloses Auge, das sich auf den Ankömmling richtete. Aus den schwarzen Schatten glühten kleine rote Kreise auf und verblaßten in dem Rhythmus, wie an dem Gift in den Köpfen der metallenen Pfeifen gesogen wurde. Die meisten lagen schweigend, aber einige murmelten vor sich hin, manche redeten miteinander mit leisen, eintönigen, fremdartigen Stimmen. Diese Unterhaltungen flackerten auf und verloren sich unvermittelt in der Stille, jeder brabbelte nur noch seine eigenen Gedanken und gab wenig auf die Worte seines Nachbarn. Hinten im Raum stand eine kleine Pfanne voller brennender Holzkohle und neben ihr saß auf einem dreibeinigen hölzernen Schemel ein langer, dünner, alter Mann, das Kinn in die Fäuste und die Ellenbogen auf die Knie gestützt und starrte ins Feuer. Ich war kaum eingetreten, als ein blaßgelber malayischer Diener mit einer Pfeife und einer Portion Rauschgift auf mich zueilte und mich in eine leere Koje weisen wollte. "Danke, ich habe nicht die Absicht, zu bleiben", sagte ich. "Ein Freund von mir ist hier, Mr. Ist Whitney. Ich möchte ihn sprechen."

Eine Bewegung und ein Ruf zu meiner Rechten machten mich aufmerksam und als ich in das Halbdunkel spähte, sah ich Whitney; er starrte mich an, blaß, verstört und ungekämmt.

"Mein Gott, Watson", sagte er. Er war in einem bejammernswerten Zustand, ein wahres Nervenbündel. "Wie spät ist es, Watson?"

"Fast elf."

"Und was für ein Tag?"

"Freitag, der 19. Juni." "Lieber Himmel! Ich dachte, es sei Mittwoch. Es ist auch Mittwoch. Warum wollen Sie einen armen Burschen erschrecken?" Sein Kopf sackte auf die Arme und er begann in hohem, durchdringendem Ton zu schluchzen. "Aber ich sage Ihnen, es ist Freitag. Ihre Frau wartet seit zwei Tagen auf Sie. Sie sollten sich schämen!" "Ja, Sie haben recht. Aber Sie müssen sich irren, ich bin erst ein paar Stunden hier - drei Pfeifchen, vier Pfeifchen - ich habe vergessen, wie viele. Doch ich gehe mit Ihnen nach Hause. Ich möchte nicht, daß Kate - die arme kleine Kate - sich ängstigt. Helfen Sie mir auf. Haben Sie eine Droschke?"

"Ja, sie wartet."

"Dann fahre ich. Aber ich muß noch bezahlen. Stellen Sie fest, wieviel ich bezahlen soll, Watson. Ich bin ganz durcheinander. Ich kann mir nicht helfen." Ich ging den schmalen Gang zwischen den Reihen der Schläfer hinunter, hielt den Atem an, um nicht die ekelhaften, benebelnden Gerüche des Rauschgifts einatmen zu müssen und sah mich nach dem Wirt um. Als ich an dem langen alten Mann vorüberkam, der bei der Kohlenpfanne saß, spürte ich, wie mich einer am Ärmel zupfte und hörte eine leise Stimme flüstern: "Gehen Sie vorbei und schauen Sie dann wieder zu mir her."

Diese Worte hörte ich ganz deutlich. Ich blickte nach unten. Sie konnten nur von dem alten Mann neben mir gekommen sein und doch saß er nach wie vor in sich versunken, sehr dünn, mit faltigem Gesicht, vom Alter gebeugt, die Opiumpfeife hing zwischen den Knien herab, als sei sie ihm vor Mattigkeit aus den Fingern geglitten. Ich ging zwei Schritte weiter, blickte zurück und mußte mich sehr zusammennehmen, um nicht vor Erstaunen aufzuschreien. Der Alte hatte sich so gedreht, daß keiner außer mir ihn sehen konnte. Seine Gestalt hatte sich aufgefüllt, die Falten waren verschwunden, die Augen hatten ihren Glanz. Der dort beim Feuer saß und über meine Verblüffung grinste, war kein anderer als Sherlock Holmes. Er bedeutete mir mit einer kleinen Bewegung, näher zu kommen und als er sein Gesicht der Gesellschaft noch einmal zukehrte, verfiel er sofort wieder in zitternde, sabbernde Greisenhaftigkeit. "Holmes!" flüsterte ich, "was um Himmels willen tun Sie in der Opiumhöhle?"

"Sprechen Sie so leise wie möglich. Ich habe ausgezeichnete Ohren. Wenn Sie die große Güte besäßen, sich von Ihrem tölpelhaften Freund loszumachen, wäre ich außerordentlich glücklich, ein kleines Gespräch mit Ihnen führen zu können."

"Draußen wartet eine Droschke."

"Dann schicken Sie ihn bitte darin nach Hause. Das können Sie wagen, denn er scheint mir zu schlapp, um noch einmal Unfug anzustellen. Sie sollten durch den Kutscher auch Ihrer Frau eine Mitteilung geben, daß Sie sich mit mir zusammengetan haben. Wenn Sie draußen warten wollen - ich werde in fünf Minuten bei Ihnen sein."

Es war schwierig, Sherlock Holmes eine Bitte abzuschlagen, denn seine Anliegen trug er stets äußerst bestimmt und überlegen vor. Ich fühlte, daß meine Mission beendet sei, wenn Whitney einmal in der Droschke untergebracht war. Und zudem konnte ich mir nichts Besseres vorstellen, als mit meinem Freund in einem jener außergewöhnlichen Abenteuer verbunden zu sein, in denen er zu leben pflegte. In wenigen Minuten hatte ich eine Nachricht an meine Frau geschrieben, für Whitney die Rechnung bezahlt, ihn zur Droschke geschafft und zugesehen, wie er in die Dunkelheit davonfuhr. Kurze Zeit danach tauchte eine altersgebeugte Gestalt aus der Opiumhöhle auf und ich ging mit Sherlock Holmes durch die Straße. Ein, zwei Seitenstraßen weit schlurrte er noch, gebückt und unsicheren Fußes. Dann, nachdem er sich schnell umgesehen hatte, streckte er sich und brach in ein herzhaftes Gelächter aus.

"Ich vermute, Watson", sagte er, "Sie argwöhnen, daß ich mir zu den Kokaininjektionen und all den anderen kleinen Schwächen, die Sie von Ihrem medizinischen Standpunkt aus immer so an mir schätzen, auch noch das Opiumrauchen angewöhnt habe." "Ich war wirklich überrascht, Sie dort zu treffen."

"Nicht mehr als ich, Sie zu treffen."

"Ich suchte nach einem Freund."

"Und ich suchte nach einem Feind."

"Nach einem Feind?"

"Ja, nach einem meiner natürlichen Feinde, oder sollte ich sagen, nach einem natürlichen Opfer? Kurz, Watson, ich stecke mitten in einer äußerst bemerkenswerten Untersuchung und hoffte, in den zusammenhanglosen Quatschereien der Wracks eine Spur zu finden, wie es mir bereits früher gelang. Hätte man mich in der Höhle erkannt, wäre mein Leben nicht mehr einen Schuß Pulver wert gewesen. Ich habe die Höhle nämlich schon öfter für meine Zwecke genutzt und der schurkische Besitzer, der Laskar, hat mir Rache geschworen. Hinterm Haus, nahe bei der Paulswerft, gibt es eine Falltür, die seltsame Geschichten davon erzählen könnte, was in mondlosen Nächten schon alles in sie hineingefallen ist."

"Wie! Sie meinen doch nicht Leichen?"

"Jawohl, Leichen, Watson. Wir wären reich, wenn wir tausend Pfund für jeden armen Teufel erhielten, der in dieser Höhle zu Tode kam. Sie ist die abscheulichste Mordfalle im ganzen Hafen, und ich fürchte, Neville St. Clair ist hineingeraten und wird sie nie wieder verlassen. Aber wir haben auch unsere Falle aufgestellt!"

Er steckte die beiden Zeigefinger zwischen die Zähne und pfiff schrill und das Signal wurde von einem ähnlichen Pfiff aus der Ferne beantwortet. Kurz darauf folgten Räderrasseln und Hufgetrappel.

"Also, Watson", sagte Holmes, als ein großer Dogcart, zwei goldene Lichtbahnen aus seinen Seitenlaternen entsendend, aus dem Dunkel, heranpreschte. "Nicht wahr, Sie kommen doch mit mir?"

"Wenn ich irgendwie nützlich sein kann?"

"Oh, ein verläßlicher Kamerad ist immer nützlich. Und ein Chronist noch mehr. Mein Zimmer in den ›Zedern‹ hat ein Doppelbett."

"In den ›Zedern‹?" "Ja, das ist der Name von Mr. St. Clairs Haus. Ich wohne dort, solange ich die Untersuchung durchführe."

"Und wo liegt es?"

"In der Nähe von Lee in Kent. Wir haben eine Fahrt von sieben Meilen vor uns."

"Aber ich tappe völlig im Dunkeln."

"Natürlich tun Sie das. Sie werden sofort alles erfahren. Springen Sie auf! John, wir brauchen Sie nicht. Hier haben Sie eine halbe Krone. Melden Sie sich morgen gegen elf. Und jetzt, die Zügel locker! Bis bald denn!"

Er gab dem Pferd einen leichten Schlag mit der Peitsche und wir preschten los durch die unendliche Folge trauriger, sich nur allmählich verbreiternder verlassener Straßen. Dann flogen wir über eine breite Brücke mit Balustraden unter der der trübe Strom träge dahinfloß. Dahinter erstreckte sich eine neue Wüste aus Stein und Mörtel, wo die Stille hin und wieder vom schweren, gleichmäßigen Schritt eines Polizisten oder den Liedern und Rufen verspäteter Teilnehmer an Trinkgelagen durchbrochen wurde. Eine trostlose, zerrissene Wolke trieb langsam über den Himmel und da und dort schimmerte schwach ein Stern. Holmes fuhr schweigend, den Kopf auf der Brust, als sei er ganz in Gedanken versunken und ich saß neben ihm und war neugierig, was das für ein Problem sein mochte, das seine Kräfte derart beanspruchte, doch auch besorgt, ich könnte den Fluß seiner Überlegungen stören. Wir waren einige Meilen gefahren und hatten die Ausläufer eines Gürtels von Vorortvillen erreicht, als Holmes die Schultern reckte und sich die Pfeife anzündete, als sei er zufrieden, weil er sein Bestes geleistet habe. "Sie besitzen die Gabe des Schweigens, Watson", sagte er.

"Das macht Sie zu einem schätzenswerten Begleiter. Ich versichere Ihnen, es ist für mich großartig, daß ich jemanden habe, mit dem ich sprechen kann, denn meine Gedanken sind nicht gerade vergnüglich. Ich habe mich gefragt, was ich dieser lieben kleinen Frau heute abend sagen soll, wenn sie mich an der Tür erwartet."

"Sie vergessen, daß ich nichts weiß."

"Mir bleibt gerade noch Zeit, Ihnen die Tatsachen des Falles zu erzählen, bevor wir in Lee ankommen. Alles scheint so furchtbar einfach und doch bekomme ich keinen Boden unter die Füße. Zweifellos gibt es einen Faden, aber ich finde sein Ende nicht. Ich werde Ihnen, Watson, jetzt klipp und klar den Fall darlegen; vielleicht sehen Sie, wo für mich Dunkel herrscht, einen Funken."

"Sprechen Sie weiter."

"Vor einigen Jahren - um genau zu sein, im Mai 1884 - kam ein Herr namens Neville St. Clair, der vi el Geld zu haben schien, nach Lee. Er mietete eine große Villa, richtete das Grundstück sehr schön her und lebte überhaupt in gutem Stil. Allmählich gewann er die Nachbarn zu Freunden und heiratete 1887 die Tochter des dortigen Brauereibesitzers, von der er jetzt zwei Kinder hat. Er übte keinen Beruf aus, war aber Gesellschafter an verschiedenen Firmen und fuhr für gewöhnlich morgens in die Stadt und kehrte abends mit dem Zug, der fünf Uhr vierzehn von Cannon Street abgeht, zurück. Mr. Neville St. Clair, jetzt siebenunddreißig Jahre alt, ist ein Herr mit angenehmen Manieren, ein guter Gatte, ein sehr liebevoller Vater und gern gesehen bei allen, die ihn kennen. Ich könnte noch hinzufügen, daß alle seine Schulden zum gegenwärtigen Zeitpunkt, soweit ich es in Erfahrung bringen konnte, achtundachtzig Pfund, zehn Schilling betragen, während sich sein Guthaben bei der Capital und Counties Bank auf zweihundertzwanzig Pfund beläuft. Deshalb gibt es keinen Grund anzunehmen, daß ihn Geldsorgen bedrückt hätten. Am letzten Montag ist Mr. Neville St. Clair früher als üblich In die Stadt gefahren. Zuvor hatte er noch bemerkt, er habe zwei wichtige Geschäfte zu erledigen und dem kleinen Jungen würde er einen Baukasten mitbringen. Zufällig erhielt seine Frau am selben Tag kurz nach seiner Abfahrt ein Telegramm mit der Mitteilung, daß ein kleines Paket von beachtlichem Wert, das sie erwartet hatte, im Büro der Aberdeen Shipping Company für sie bereitliege. Wenn Sie sich in Ihrem London auskennen, werden Sie wissen, daß das Büro in der Fresno Street liegt, die von der Upper Swandam Lane, wo Sie mich heute abend gefunden haben, abzweigt. Nach dem Lunch machte sich Mrs. St. Clair auf in die Stadt, tätigte einige Einkäufe, ging zum Büro der Gesellschaft, bekam ihr Paket und passierte genau vier Uhr fünfunddreißig die Swandam Lane in Richtung Bahnhof. Konnten Sie mir soweit folgen?"

"Alles klar."

"Wenn Sie sich erinnern: Der Montag war ein außerordentlich heißer Tag, und Mrs. St. Clair ging langsam und schaute nach einer Droschke aus, denn ihr gefiel die Gegend nicht, in der sie sich befand. Während sie so die Swandam Lane entlangging, hörte sie plötzlich einen Ausruf oder einen Schrei und war zu Tode erschrocken, als sie ihren Mann sah, der aus einem Fenster im zweiten Stock auf sie herunterblickte und ihr zuwinkte. Das Fenster stand offen und sie hat sein Gesicht genau gesehen; sie beschreibt es als sehr aufgeregt. Er winkte ihr heftig mit den Händen und verschwand dann so plötzlich von dem Fenster, daß ihr schien, eine unwiderstehliche Kraft habe ihn zurückgerissen. Ein besonderer Punkt, der ihrem raschen weiblichen Auge auffiel, war, daß er, obwohl er einen dunklen Rock anhatte, in dem er auch zur Stadt aufgebrochen war, weder Kragen noch Krawatte trug. Überzeugt, mit ihm sei etwas nicht in Ordnung, stürzte sie die Treppe hinunter - denn das Haus ist kein anderes als die Opiumhöhle, an der Sie mich getroffen haben - rannte durch den Vorraum und wollte in den ersten Stock steigen. Aber am Fuß der Treppe stieß sie auf diesen Schurken von Laskar, von dem ich Ihnen erzählt habe. Der und ein dort als Gehilfe fungierender Däne schoben sie zurück und drängten sie aus dem Haus und auf die Straße. Voll wahnsinniger Zweifel und Befürchtungen lief sie die Gasse hinunter und stieß durch ein seltenes Glück in der Fresno Street auf einige Constabler und einen Inspektor, die ihre Runde machten. Der Inspektor und zwei Mann begleiteten sie, bahnten sich trotz des hartnäckigen Widerstands des Wirts den Weg zu dem Zimmer, in dem Mr. St. Clair zuletzt gesehen worden war. Dort gab es von ihm keine Spur. Auf der ganzen Etage fand man niemanden als einen armen Krüppel von scheußlichem Aussehen, der, wie es schien, hier kampierte. Die beiden, der Krüppel und der Laskar, schworen Stein und Bein, daß im Lauf des Nachmittags sonst keiner in dem Vorderzimmer gewesen sei. Sie leugneten so bestimmt, daß der Inspektor unsicher wurde, und er wollte schon annehmen, Mrs. St. Clair habe sich getäuscht, als die Dame mit einem Schrei zum Tisch lief, auf dem eine kleine Spanschachtel lag und von ihr den Deckel abriß. Heraus polterten lauter Kinderbausteine. Es war das Spielzeug, das ihr Mann mitzubringen versprochen hatte. Diese Entdeckung und die offensichtliche Verwirrung des Krüppels sagten dem Inspektor, daß die Sache ernst sei. Das Zimmer wurde sorgfältig durchsucht, und alles deutete auf ein abscheuliches Verbrechen hin. Das Vorderzimmer ist ein Wohnraum mit einfachen Möbeln. Davon geht ein kleines Schlafzimmer ab, dessen Hinterfenster auf eine der Werften schaut. Zwischen der Werft und dem Schlafzimmerfenster liegt ein schmaler Streifen Land, bei Ebbe ist er trocken, aber bei Flut mit wenigstens viereinhalb Fuß Wasser bedeckt. Das Fenster ist breit, und man kann es von unten aufschieben. Die Untersuchung erwies Blutspuren auf dem Fensterbrett und einige Blutspritzer auf dem Holzfußboden des Schlafzimmers. Hinter einem Vorhang im Vorderzimmer steckten die Kleider von Mr. St. Clair, nur der Rock fehlte. Seine Stiefel, seine Socken, sein Hut und seine Uhr - alles war da. An den Kleidern fand man keine Hinweise auf Gewaltanwendung. Weitere Spuren von Mr. Neville St. Clair gab es nicht. Er muß durch das Fenster verschwunden sein, denn man konnte sonst keinen Ausgang entdecken und die verhängnisvollen Blutflecken auf dem Fensterbrett ließen wenig Hoffnung, daß er sich durch Schwimmen gerettet haben könnte, obwohl zum Zeitpunkt der Tragödie die Flut auf dem höchsten Stand war. Und nun zu den Schurken, die anscheinend direkt in die Angelegenheit verwickelt sind. Der Laskar ist für sein schlimmes Vorleben bekannt, aber da wir von Mrs. St. Clair wissen, daß er unten an der Treppe stand, wenige Minuten nachdem sie ihren Mann am Fenster gesehen hatte, kann er kaum mehr als ein Mitschuldiger an dem Verbrechen sein. Er verteidigte sich, indem er vorgab, absolut nichts zu wissen, und beteuerte, er hätte keinerlei Kenntnis vom Tun und Lassen des Hugh Boone, seines Mieters, und er könnte nichts darüber sagen, wie die Kleider des vermißten Herrn in das Zimmer gekommen seien. Soviel zu dem Geschäftsführer Laskar. Nun zu dem traurigen Krüppel, der im zweiten Stock über der Opiumhöhle wohnt und mit Sicherheit der letzte gewesen ist, der Neville St. Clair gesehen hat. Er heißt Hugh Boone, und sein scheußliches Gesicht kennt jeder, der öfters in der City zu tun hat. Er ist ein berufsmäßiger Bettler, obwohl er, um die polizeilichen Vorschriften zu umgehen, vorgibt, einen Handel mit Wachszündhölzern zu betreiben. Am Anfang der Threadneedle Street, auf der linken Seite, gibt es, wie Ihnen vielleicht schon aufgefallen ist, einen kleinen Winkel. Dort läßt sich die Kreatur täglich nieder und sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen, seinen kleinen Vorrat Zündhölzer im Schoß, da. Er bietet ein erbärmliches Bild, und so ergießt sich ein kleiner Regen Wohltätigkeit in die schmierige Ledermütze, die vor ihm auf dem Pflaster liegt. Ich habe den Burschen mehr als einmal beobachtet, ehe ich noch dachte, daß ich jemals von Berufs wegen seine Bekanntschaft machen würde, und ich war erstaunt über die Ernte, die er in kurzer Zeit einsammelt. Sein Äußeres, müssen Sie wissen, ist so bemerkenswert, daß keiner an ihm vorüber kann, ohne auf ihn aufmerksam zu werden. Apfelsinenrotes Haar, ein bleiches Gesicht, entstellt von einer schrecklichen Narbe, die, als sie zusammenwuchs, die Oberlippe schief nach oben gezogen hat, ein Kinn wie eine Bulldogge und ein Paar durchdringende dunkle Augen, die in seltsamem Kontrast zu der Haarfarbe stehen - all das hebt ihn aus der Menge der üblichen Bettler heraus. Dafür sorgt auch sein Witz, denn auf jede Neckerei eines Passanten hat er eine Antwort parat. Das ist der Mann, von dem wir jetzt wissen, daß er über der Opiumhöhle wohnt und daß er der letzte war, der den Herrn, nach dem wir suchen, gesehen hat."

"Aber ein Krüppel" sagte ich. "Was könnte ein Einarmiger gegen einen Mann in der Blüte seiner Jahre ausrichten?"

"Er ist nur insofern ein Krüppel, als er beim Gehen hinkt, aber sonst scheint er ein kräftiger, wohlgenährter Mann zu sein. Aus Ihren ärztlichen Erfahrungen wissen Sie sicher, daß die Schwäche eines der Glieder oft durch außergewöhnliche Kraft der anderen kompensiert wird."

"Bitte, fahren Sie in Ihrer Erzählung fort."

"Mrs. St. Clair wurde ohnmächtig, als sie das Blut auf dem Fensterbrett sah und die Polizei begleitete sie in einer Kutsche nach Hause, da sie bei den Untersuchungen keine Hilfe sein konnte. Inspektor Barton, der den Fall übernommen hat, suchte das ganze Grundstück sorgfältig ab, fand aber nichts, das Licht in die Angelegenheit bringen konnte. Man hat den Fehler begangen, Boone nicht sofort zu verhaften und so war es ihm für wenige Minuten möglich, sich mit dem Laskar, seinem Freund, auszutauschen. Aber dieser Fehler wurde sofort gutgemacht. Man nahm ihn fest und durchsuchte ihn, fand aber bei ihm nichts, das ihn hätte belasten können. Allerdings waren auf seiner rechten Manschette einige Blutspritzer, aber er zeigte seinen Ringfinger, der neben dem Nagel einen Schnitt aufwies und erklärte, das Blut komme daher und fügte hinzu, er hätte kurz zuvor am Fenster gestanden und die dort festgestellten Spritzer stammten zweifellos auch aus seiner Wunde. Er bestritt energisch, Mr. Neville St. Clair jemals gesehen zu haben und schwor, daß die fremden Kleider in dem Zimmer für ihn genauso ein Rätsel seien wie für die Polizei. Zu Mrs. St. Clairs Aussage, sie habe ihren Mann an dem Fenster gesehen, erklärte er, sie müsse entweder verrückt gewesen sein oder geträumt haben. Er protestierte laut, als er zur Polizeistation gebracht wurde. Der Inspektor blieb in dem Gebäude, denn er hoffte, die Ebbe würde eine neue Spur zutage fördern. Und tatsächlich förderte sie etwas zutage, wenn auch nicht das, was man befürchtet hatte. Auf der Schlammbank lag, nachdem sich das Wasser verlaufen hatte, der Rock von Neville St. Clair, nicht er selber. Und was, glauben Sie, fand man in den Taschen?"

"Ich kann es mir nicht vorstellen."

"Ja, ich glaube, das können Sie wirklich nicht. Alle Taschen waren vollgestopft mit Pennies und Halfpennies - vierhunderteinundzwanzig Pennies und zweihundertsiebzig Halfpennies. Kein Wunder, daß die Ebbe den Rock nicht davongetragen hat. Aber ein menschlicher Körper ist ein ander Ding. Zwischen der Werft und dem Haus gibt es einen wilden Strudel. Während der schwere Rock hängenblieb, mag der entkleidete Leichnam in den Fluß hineingezogen worden sein."

"Sagten Sie nicht, daß alle anderen Kleidungsstücke im Zimmer gefunden wurden? Sollte die Leiche nur mit einem Rock bekleidet gewesen sein?"

"Nein, Sir, aber diesen Tatsachen muß man mit aller Vorsicht begegnen. Nehmen wir an, Boone hat Neville St. Clair aus dem Fenster geworfen und keines Menschen Auge hat die Tat gesehen. Was würde er als nächstes gemacht haben? Natürlich wäre ihm sofort eingefallen, daß er die verräterischen Kleidungsstücke loswerden müsse. Er hätte also den Rock gepackt und in dem Moment, da er ihn aus dem Fenster werfen wollte, ging ihm auf, daß der schwimmen und nicht untergehen würde. Ihm blieb wenig Zeit, denn er hörte das Getümmel an der Treppe, als die Frau versuchte, sich den Weg nach oben zu bahnen und vielleicht hörte er dann auch von seinem Kumpan, dem Laskar, daß die Polizei in der Straße eingetroffen sei. Er durfte keine Sekunde verlieren. Also stürzte er zu irgendeiner verborgenen Schatzkiste, in der er die Früchte seiner Bettelei hortete und stopfte alle Münzen, die er zu fassen bekam in die Taschen, weil er sichergehen wollte, daß der Rock sank. Er warf den Rock hinaus und hätte mit den anderen Sachen dasselbe getan, aber da hörte er die Schritte heranstürmen und ihm blieb gerade noch Zeit, das Fenster zu schließen, ehe die Polizei erschien."

"Möglicherweise war es so."

"Gut, nehmen wir das als Arbeitshypothese mangels einer besseren an. Boone wurde, wie ich Ihnen bereits sagte, festgenommen und zur Polizeistation gebracht. Doch es lag nichts gegen ihn vor. Seit Jahren war er als berufsmäßiger Bettler bekannt, sein Leben schien aber ruhig und unschuldig verlaufen zu sein. Das ist der gegenwärtige Stand der Dinge und es bleiben die Fragen: Was hatte Neville St. Clair in der Opiumhöhle zu schaffen, was ist ihm dort zugestoßen, wo befindet er sich jetzt und was hat Hugh Boone mit seinem Verschwinden zu tun? Alles ist weiter denn je von einer Antwort entfernt. Ich gestehe, ich kann mich an keinen Fall aus unserer Praxis erinnern, der auf den ersten Blick derart einfach aussah und doch so viele Schwierigkeiten darbot."

Während Holmes diese sonderbare Folge von Ereignissen vortrug, hatten wir die Ausläufer der großen Stadt durchjagt und auch die letzten verstreut liegenden Häuser hinter uns gelassen. Nun rasselte der Wagen zwischen Hecken dahin. Er war mit seinem Bericht gerade zu Ende gekommen, als wir zwei langgezogene Dörfer passierten, wo noch ein paar Lichter in den Fenstern glommen.

"Wir sind am Rande von Lee", sagte mein Freund. "Wir haben in der kurzen Zeit den Weg durch drei Counties genommen, sind in Middlesex gestartet, haben ein Stück von Surrey durchquert und befinden uns jetzt in Kent. Sehen Sie den Schein zwischen den Bäumen? Das ist ›Zedern‹ und neben der Lampe sitzt eine Frau, deren gespannt lauschende Ohren zweifellos schon den Hufschlag unserer Pferde vernommen haben."

"Aber warum führen Sie die Ermittlungen nicht von der Baker Street aus?" fragte ich. "Weil vieles hier untersucht werden muß. Mrs. St. Clair hat mir freundlicherweise zwei Zimmer zur Verfügung gestellt und Sie können sicher sein, daß, auch Sie, mein Freund und Kollege, ihr nur willkommen sein werden. Ich mag nicht vor ihr stehen, Watson, wenn ich ihr nichts Neues über ihren Gemahl mitteilen kann. Wir sind am Ziel. He, hallo, he!" Wir hielten vor einer großen Villa, die etwas abseits der Straße lag. Ein Stalljunge lief auf das Pferd zu. Ich sprang vom Wagen und folgte Holmes über die schmale, gewundene Auffahrt. Als wir fast am Haus waren, flog die Tür auf und im Rahmen stand eine kleine blonde Frau, in eine Art leichtes mousseline-desoie gekleidet, mit einem Hauch von luftigem rosa Chiffon am Ausschnitt und an den Handgelenken. Die Gestalt hob sich gegen die Lichtflut hinter ihr ab, eine Hand lag auf der Klinke, die andere war im Eifer halb erhoben. Der Körper war leicht gebeugt, Kopf und Gesicht vorgeneigt, die Augen erwartungsvoll aufgerissen, der Mund geöffnet - eine lebende Frage.

"Nun?" rief sie und wie sie sah, daß wir zu zweit waren, tat sie einen Hoffnungsschrei, der in einem Stöhnen unterging, als mein Gefährte den Kopf schüttelte und die Schultern zuckte.

"Keine guten Nachrichten?"

"Keine." "Keine schlechten?"

"Nein."

"Gott sei Dank. Aber kommen Sie herein. Sie müssen müde sein nach dem langen Tag."

"Das ist mein Freund Dr. Watson. Er war in verschiedenen meiner Fälle von größtem Nutzen und ein glücklicher Zufall ermöglichte es mir, ihn für diese Untersuchung zu gewinnen."

"Ich freue mich, Sie kennenzulernen", sagte sie und drückte mir herzlich die Hand. "Sie werden verzeihen, wenn Sie nicht alles zu Ihrer Bequemlichkeit vorfinden. Sie müssen aber den Schlag bedenken, der uns so plötzlich getroffen hat." "Meine liebe Dame, ich bin ein abgedienter Soldat, und selbst wenn es nicht so wäre, sehe ich doch, daß eine Entschuldigung unnötig ist. Ich wäre glücklich, wenn ich Ihnen oder meinem Freund irgendwie von Nutzen sein könnte."

Wir betraten ein hellerleuchtetes Zimmer; auf dem Tisch war ein kaltes Abendessen angerichtet.

"Nun, Mr. Holmes", sagte die Dame, "ich möchte Ihnen sehr gern ein paar einfache Fragen stellen, auf die ich Sie bitte, mir eine einfache Antwort zu geben."

"Aber gewiß, Madam."

"Nehmen Sie keine Rücksicht auf meine Gefühle. Ich bin nicht hysterisch, noch falle ich leicht in Ohnmacht. Ich möchte nur Ihre ehrliche Meinung hören."

"Zu welchem Punkt?"

"Glauben Sie in der Tiefe Ihres Herzens, daß Neville am Leben ist?" Sherlock Holmes schien durch die Frage verwirrt. "Frei heraus", sagte sie. Sie stand auf dem Kaminvorleger und blickte ihn, der in einen Korbsessel gelehnt dasaß, scharf an. "Frei heraus, Madam, ich glaube es nicht."

"Glauben Sie, daß er tot ist?"

"Ja."

"Ermordet?"

"Das sage ich nicht. Vielleicht."

"Und an welchem Tag hat ihn der Tod ereilt?"

"Am Montag."

"Dann, Mr. Holmes, haben Sie vielleicht die Güte, mir zu erklären, wie es kommt, daß ich heute von ihm einen Brief erhalten konnte." Holmes sprang aus dem Sessel, als wäre ein Stromstoß durch ihn gefahren.

"Was?" brüllte er.

"Ja, heute."

Lächelnd stand sie da und hielt ein Stück Papier hoch.

"Darf ich ihn lesen?"

"Gewiß."

Er entriß ihr das Blatt, glättete es auf dem Tisch, zog die Lampe heran und untersuchte es eingehend. Ich war aus meinem Sessel aufgestanden und schaute ihm über die Schulter. Das Kuvert bestand aus grobem Papier und war mit dem Poststempel von Gravesend versehen, der das Datum des heutigen, vielmehr des vergangenen Tages trug, denn es war inzwischen beträchtlich nach Mitternacht.

"Plumpe Schrift", murmelte Holmes.

"Sicherlich ist das nicht die Schrift Ihres Mannes, Madam."

"Nein, aber die im Brief."

"Ich nehme an, daß derjenige, der das Kuvert beschrieb, nach der Adresse fragen mußte."

"Wie können Sie das wissen?"

"Der Name, sehen Sie, steht in tiefschwarzer Tinte, die ist von selber getrocknet. Der Rest der Adresse sieht eher grau aus, was beweist, daß Löschpapier benutzt wurde. Wenn alles in einem Zug geschrieben und abgelöscht worden wäre, dürfte kein Wort tiefschwarz sein. Der Mann hat zuerst den Namen geschrieben und nach einer Pause dann die Adresse. Das kann nur bedeuten, daß sie ihm nicht vertraut war. Das ist natürlich eine Kleinigkeit, aber nichts ist so wichtig wie Kleinigkeiten. Nun zum Brief. Ah! Es war eine Anlage enthalten."

"Ja, ein Ring. Sein Siegelring," "Und Sie sind sich sicher, daß dies die Handschrift Ihres Mannes ist?"

"Eine seiner Handschriften."

"Eine?"

"Seine Handschrift, wenn er in Eile schrieb. Sie ist seiner eigentlichen Schrift sehr unähnlich. Aber ich kenne sie gut." "›Liebste, fürchte dich nicht. Alles wird gut werden. Es gibt ein gewaltiges Mißverständnis und es wird vielleicht einige Zeit dauern, bis es richtiggestellt ist. Warte in Geduld. - Neville"‹.

Mit Bleistift auf das Vorsatzblatt eines Buches geschrieben, Oktavformat, kein Wasserzeichen. Aufgegeben heute. In Gravesend von einem Mann mit schmutzigem Daumen. Ha! Und die Lasche hat, wenn mich nicht alles täuscht, jemand beleckt, der Tabak kaut. Und Sie haben keinen Zweifel, daß dies die Handschrift Ihres Mannes ist, Madam?"

"Keinen. Diese Worte hat Neville geschrieben."

"Und sie sind heute in Gravesend auf die Post gebracht worden. Nun, Mrs. St. Clair, die Wolken lichten sich, obwohl ich nicht zu sagen wage, daß die Gefahr vorüber ist."

"Aber er muß am Leben sein, Mr. Holmes!"

"Es sei denn, ein gerissener Fälscher will uns auf diese falsche Spur setzen. Der Ring beweist nichts. Den kann jemand Ihrem Mann abgenommen haben."

"Nein, nein, es ist, ist, ist seine Handschrift."

"Sehr gut. Dennoch kann der Brief am Montag geschrieben und gestern erst zur Post gebracht worden sein."

"Das wäre möglich."

"Wenn das stimmt, kann inzwischen viel geschehen sein."

"Ach, Mr. Holmes, entmutigen Sie mich nicht. Ich weiß, daß es gut um ihn steht. Zwischen uns besteht eine so feste Bindung, daß ich wüßte, wenn ihm Übles zugestoßen wäre. An dem Tag, als ich ihn zuletzt sah, hat er sich im Schlafzimmer geschnitten und obwohl ich im Wohnzimmer war, bin ich sofort nach oben gerannt, weil ich genau wußte, daß etwas geschehen war. Glauben Sie, ich reagierte auf so eine Kleinigkeit und wüßte nicht, wenn er tot ist?" "Ich habe zuviel erlebt, um nicht auch erfahren zu haben, daß das Empfinden einer Frau wertvoller sein kann als die Schlüsse eines analytischen Denkers. Und mit diesem Brief haben Sie einen sehr starken Beweis, der Ihre Meinung erhärtet. Aber wenn Ihr Mann lebt und Briefe schreiben kann, aus welchem Grunde hält er sich von Ihnen fern?"

"Das kann ich mir nicht erklären. Es ist undenkbar."

"Und er hat am Montag, ehe er wegging, nichts Besonderes gesagt?"

"Nein."

"Und Sie waren überrascht, als Sie ihn in der Swandam Lane sahen?"

"Sehr überrascht."

"Stand das Fenster offen?"

"Ja."

"Dann hätte er Sie rufen können?"

"Er hätte." "Er stieß nur, wie ich es verstanden habe, einen unartikulierten Schrei aus?"

"Ja."

"Einen Hilfeschrei?"

"Ja. Er fuchtelte mit den Händen."

"Aber es hätte ein Überraschungsschrei sein können. Erstaunen über Ihr unerwartetes Auftauchen kann der Grund dafür gewesen sein, daß er die Hände hochwarf."

"Das ist möglich." "Und Sie glaubten, er sei zurückgezerrt worden."

"Er verschwand so plötzlich."

"Er kann zurückgesprungen sein. Sie haben sonst niemanden im Zimmer gesehen?"

"Nein. Aber der schreckliche Mann hat gestanden, er sei in dem Zimmer gewesen und der Laskar stand unten an der Treppe."

"Ganz recht. Ihr Mann hatte, soweit Sie sehen konnten, seine gewöhnlichen Kleider an?"

"Aber ohne Kragen und Krawatte. Ich habe genau, seinen nackten Hals gesehen."

"Hat er früher schon von der Swandam Lane gesprochen?"

"Nie."

"Haben Sie je Anzeichen dafür entdeckt, daß er Opium nahm?"

"Nie."

"Ich danke Ihnen, Mrs. St. Clair. Das sind die grundsätzlichen Punkte, über die ich absolute Klarheit haben wollte. Wir werden ein bißchen zu Abend essen und uns dann zurückziehen. Wir haben einen sehr anstrengenden Tag vor uns."

Ein großes behagliches Zimmer mit einem Doppelbett stand zu unserer Verfügung und schnell lag ich zwischen den Laken. Ich war müde nach dieser Nacht voller Abenteuer. Sherlock Holmes dagegen konnte es, wenn er ein ungelöstes Problem mit sich herumtrug, tagelang und sogar für eine ganze Woche aushalten, ohne zu ruhen. Er wandte das Problem hin und her, ordnete seine Tatsachen immer wieder neu und betrachtete sie von jedem Blickpunkt aus, bis er sie entweder ergründet hatte oder zu der Überzeugung gekommen war, daß sein Detailwissen nicht genügte. Bald war mir klar, daß er sich auf eine Nachtsitzung vorbereitete. Er legte Jacke und Weste ab, zog einen weiten blauen Schlafrock über, ging dann im Zimmer umher und sammelte Kissen von seinem Bett und Polster vom Sofa und von den Sesseln ein. Daraus baute er eine Art orientalischen Diwan, auf dem er sich mit gekreuzten Beinen niederließ, vor sich eine Unze Shag und eine Schachtel Zündhölzer. Im trüben Schein der Lampe sah ich ihn so sitzen, eine alte Bruyerepfeife zwischen den Zähnen, die Augen leer in eine Ecke der Zimmerdecke gerichtet, der blaue Rauch stieg auf. Er saß schweigend und regungslos, das Licht beschien seine scharfgeschnittenen, adlerhaften Züge. So saß er, als ich in Schlaf fiel und so saß er, als mich ein plötzlicher Ruf aus dem Schlaf riß und ich sah, daß die Sommersonne ins Zimmer schien. Er hatte die Pfeife noch im Mund, der Rauch kräuselte noch immer zur Decke, aber von dem Häufchen Shag, das ich in der Nacht gesehen hatte, war nichts mehr übrig.

"Wach, Watson?" fragte er. "Ja."

"Lust auf eine Morgenausfahrt?"

"Sicherlich."

"Dann ziehen Sie sich an. Im Haus rührt sich noch nichts, aber ich weiß, wo der Stalljunge schläft und so werden wir den Wagen bald draußen haben."

Dabei kicherte er in sich hinein und zwinkerte mir zu, er schien ein ganz anderer Mann als der düstere Denker der vergangenen Nacht. Beim Anziehen schaute ich auf die Uhr. Kein Wunder, daß sich im Haus noch nichts rührte. Es war fünf vor halb fünf. Ich war kaum fertig, als Holmes mit der Nachricht zurückkam, daß der Junge das Pferd anschirrte. "Ich möchte eine kleine Theorie ausprobieren", sagte er, als er sich die Stiefel anzog. "Ich denke, Watson, Sie haben den größten Narren von Europa vor sich. Ich verdiene, daß man mich von hier nach Charing Cross prügelt, aber ich denke auch, ich habe jetzt den Schlüssel zu der Affäre."

"Und wo ist er?" fragte ich lächelnd. "Im Badezimmer", antwortete er. "Nein, ich scherze nicht", fuhr er fort, als er meinen ungläubigen Blick sah. "Ich bin eben dort gewesen und habe ihn mir geholt. Er befindet sich hier im Gladstone. Auf, mein Junge, wir wollen sehen, ob er ins Schloß paßt."

Wir stiegen, so schnell wir konnten, die Treppe hinunter und traten hinaus in die helle Morgensonne. Auf der Landstraße standen Pferd und Wagen und der halbangezogene Stalljunge. Wir sprangen auf und preschten los in Richtung London. Ein paar Bauernwagen, die Gemüse zur Hauptstadt fuhren, waren schon unterwegs, aber die Villen zu beiden Seiten lagen schweigsam und leblos wie Häuser einer Geisterstadt.

"Es ist in einigen Punkten ein einmaliger Fall", sagte Holmes und trieb das Pferd zum Galopp an. "Ich gestehe, ich war blind wie ein Maulwurf, aber es ist besser, spät zur Weisheit zu kommen als nie."

Die städtischen Frühaufsteher blickten gerade erst schläfrig aus den Fenstern, als wir durch die Straßen von Surrey fuhren. Auf der Waterloo Bridge überquerten wir den Fluß, jagten durch die Wellington Street, bogen scharf rechts ab und waren in der Bow Street. Sherlock Holmes war der Polizei gut bekannt und die zwei Constabler an der Tür grüßten ihn. Einer von ihnen hielt das Pferd, während der andere uns hineinbegleitete.

"Wer hat Dienst?" fragte Holmes. "Inspektor Bradstreet, Sir."

"Ah, Bradstreet, wie geht's?" Ein großer, stämmiger Beamter kam den gefliesten Korridor entlang, er trug eine Schirmmütze und eine schnurbesetzte Jacke.

"Ich möchte Sie kurz sprechen, Bradstreet."

"Gewiß, Mr. Holmes. Kommen Sie in mein Zimmer."

Es war ein kleiner büroähnlicher Raum mit einem riesigen Hauptbuch auf dem Tisch und einem Telefon an der Wand. Der Inspektor setzte sich an sein Pult. "Was kann ich für Sie tun, Mr. Holmes?"

"Ich komme wegen des Bettlers, Boone - das ist der, der unter Verdacht steht, mit dem Verschwinden von Mr. Neville St. Clair aus Lee zu tun zu haben."

"Ja, der ist eingeliefert und zu weiteren Verfahren hier behalten worden."

"Das hörte ich. Er ist also hier?" "Im Zellentrakt."

"Ist er ruhig?"

"Oh, er macht kein Theater. Aber er ist ein schmutziger Penner."

"Schmutzig?"

"Ja. Alles, was wir erreichen konnten, war, daß er sich die Hände wäscht. Sein Gesicht ist schwarz wie das eines Kesselflickers. Wenn sein Fall geregelt ist, bekommt er ein normales Gefangenenbad. Ich glaube, wenn Sie ihn sähen, würden Sie mit mir übereinstimmen, daß er es nötig braucht." "Ich würde ihn sehr gerne sehen."

"Möchten Sie? Das ist einfach. Ihren Beutel können Sie hier lassen."

"Nein, ich glaube, ich nehme ihn mit."

"Gut. Bitte, hier entlang."

Er führte uns durch einen Gang, öffnete eine verriegelte Tür, stieg eine Wendeltreppe hinunter; so kamen wir in einen weißgetünchten Flur mit einer Reihe Türen auf jeder Seite.

"Die dritte rechts ist seine", sagte der Inspektor. "Wir sind da." Leise zog er den Schieber im oberen Teil der Tür zurück und guckte durch den Spion. "Er schläft", sagte er. "Sie können ihn sehr gut sehen."

Wir blickten beide durch das Loch. Der Gefangene lag, mit dem Gesicht zu uns, in tiefem Schlaf, er atmete langsam und schwer. Er war mittelgroß, schlecht gekleidet, wie es sein Geschäft erforderte, mit einem bunten Hemd, das durch einen Riß in seinem zerlumpten Rock vorschaute. Er war, wie der Inspektor gesagt hatte, äußerst schmutzig, aber der Dreck auf seinem Gesicht konnte seine abstoßende Häßlichkeit nicht vertuschen. Vom Auge zum Kinn ging eine breite alte Narbe, die beim Zusammenwachsen ein Ende der Oberlippe nach außen gestülpt hatte, so daß drei Zähne ständig bloß lagen. Ein Büschel hellroten Haars, wucherte tief über Stirn und Augen.

"Das ist eine Schönheit, nicht wahr?" rief der Inspektor.

"Der braucht ein Bad", bemerkte Holmes. "So etwas habe ich mir schon gedacht und mir die Freiheit genommen, die Werkzeuge mitzubringen." Er öffnete seinen Gladstone und zog zu meinem Erstaunen einen großen Badeschwamm hervor. "Haha, Sie sind mir einer", kicherte der Inspektor. "Wenn Sie die Güte hätten, die Tür ganz leise aufzumachen, werden wir es bald dazu bringen, daß er eine respektable Erscheinung abgibt."

"Ich wüßte nicht, weshalb ich es nicht tun sollte", sagte der Inspektor. "Er macht den Zellen von Bow Street keine Ehre."

Er ließ den Schlüssel ins Schloß gleiten und wir betraten ganz leise die Zelle. Der Schläfer drehte sich halb herum und verfiel wieder in tiefen Schlummer. Holmes beugte sich über die Wasserkanne, machte seinen Schwamm naß und rieb ihn dann zweimal kräftig dem Gefangenen über das Gesicht. "Darf ich Ihnen", rief er, "Mr. Neville St. Clair aus Lee vorstellen?"

Nie im Leben hatte sich mir ein solcher Anblick geboten. Des Mannes Gesicht schälte sich unter dem Schwamm wie die Rinde von einem Baum. Weg war der braune Dreck. Weg auch die schreckliche Narbe und das schiefe Maul, das dem Gesicht das abstoßende Grinsen gegeben hatte. Ein Ruck entfernte das wirre rote Haar und in seinem Bett saß ein blasser, trauriger, gesäuberter Mann mit schwarzem Haar und glatter Haut, der sich die Augen rieb und schläfrig und verstört um sich blickte. Dann plötzlich, als er gewahr wurde, daß er entdeckt war, tat er einen Schrei, warf sich nieder und drückte das Gesicht ins Kissen.

"Lieber Himmel!" rief der Inspektor. "Das ist wirklich der Vermißte! Ich kenne ihn von der Fotografie."

Der Gefangene setzte sich mit der Rücksichtslosigkeit eines Mannes zur Wehr, der sich mit seinem Schicksal abgefunden hat. "Na und", sagte er. "wessen klagt man mich, bitte sehr, an?"

"Daß Sie Mr. Neville St.. . Ach, dafür kann man Sie ja nicht anklagen, es sei denn - es sei denn, man macht einen Fall von versuchtem Selbstmord daraus", sagte der Inspektor mit einem Grinsen. "Seit siebenundzwanzig Jahren bin ich bei der Polizei, aber das schlägt wirklich dem Faß den Boden aus."

"Wenn ich Mr. Neville St. Clair bin, dann liegt zutage, daß kein Verbrechen begangen worden ist und ich ungesetzlich in Haft gehalten werde."

"Es ist kein Verbrechen begangen worden, aber eine sehr grobe Irreführung liegt vor", sagte Holmes. "Sie wären besser gefahren, wenn Sie Ihrer Frau vertraut hätten."

"Es ging nicht um die Frau, sondern um die Kinder", stöhnte der Gefangene. "Gott helfe mir! Ich wollte nicht, daß sie sich für ihren Vater schämen müssen. Mein Gott, welche Enthüllung! Was soll ich bloß machen?" Sherlock Holmes setzte sich neben ihm auf die Pritsche und klopfte ihm freundlich auf die Schulter. "Wenn Sie es dem Gericht überlassen, die Sache aufzuklären", sagte er, "dann wird Aufsehen natürlich kaum zu vermeiden sein. Wenn Sie andererseits die Polizei davon überzeugen, daß es eine Klage gegen Sie nicht geben kann, dann wüßte ich keinen Grund, weshalb die Einzelheiten den Weg in die Zeitungen nehmen müßten. Inspektor Bradstreet wird, dessen bin ich sicher, ein Protokoll anfertigen über alles, was Sie uns berichten und es der zuständigen Behörde unterbreiten. Der Fall würde dann nie vor Gericht kommen."

"Gott segne Sie", rief der Gefangene leidenschaftlich. "Ich würde lieber Gefängnis ertragen, ja sogar eine Hinrichtung, als daß mein elendes Geheimnis Schande über meine Kinder bringt. Sie sind die ersten, die meine Geschichte hören. Mein Vater war Schulmeister in Chesterfield, wo ich eine hervorragende Erziehung erhielt. In meiner Jugend reiste ich, ging zum Theater und wurde schließlich Reporter bei einer Abendzeitung in London. Eines Tages wollte der Herausgeber eine Serie von Artikeln über Bettelei in der Hauptstadt haben und ich erbot mich, sie zu liefern. An diesem Punkt begannen alle meine Abenteuer. Nur indem ich den Versuch machte, selber zu betteln, konnte ich für meinen Artikel die nötigen Tatsachen erhalten. Als Schauspieler hatte ich natürlich alle Geheimnisse des Schminkens gelernt. In der Garderobe war ich berühmt für mein Geschick. Jetzt machte ich mir diese Kenntnisse zunutze. Ich färbte mein Gesicht, und damit ich möglichst erbarmungswürdig wirkte, schminkte ich mir eine deftige Narbe und klebte eine Seite der Oberlippe mit Hilfe eines kleinen fleischfarbenen Pflasters hoch. Unter einer roten Perücke und in entsprechenden Kleidern bezog ich dann Posten im belebtesten Teil der City, vorgeblich als Verkäufer von Streichhölzern, in Wirklichkeit aber bettelte ich. Sieben Stunden lang ging ich dieser Beschäftigung nach und als ich abends nach Hause kam, stellte ich zu meiner Überraschung fest, daß ich nicht weniger als sechsundzwanzig Shilling und vier Pence eingenommen hatte. Ich schrieb meine Artikel und dachte nur wenig an die Angelegenheit, bis ich einige Zeit später für eine Rechnung eines Freundes bürgte und mir damit ein Reskript über fünfundzwanzig Pfund einhandelte. Ich wußte mir keinen Rat, woher ich das Geld nehmen sollte, doch dann kam mir plötzlich die Idee. Ich ersuchte den Gläubiger um zwei Wochen Aufschub, bat den Herausgeber um Urlaub und verbrachte die Zeit in meiner Verkleidung bettelnd in der City. Innerhalb von zehn Tagen hatte ich das Geld beisammen und die Schuld bezahlt. Nun, Sie können sich vorstellen, wie schwer es mir fiel, mich wieder in die harte Arbeit für zwei Pfund die Woche zu schicken, da ich, doch wußte, daß ich an einem Tag soviel verdienen konnte, indem ich mir das Gesicht mit ein bißchen Farbe beschmierte, meine Mütze auf die Erde legte und regungslos dasaß. Es war ein langer Kampf zwischen meinem Stolz und diesem Gedanken, aber der Dollar siegte schließlich. Ich gab den Journalismus auf und saß Tag um Tag in dem Winkel, den ich mir beim erstenmal ausgewählt hatte, erregte Mitleid durch mein scheußliches Gesicht und füllte mir die Taschen mit Kupfer. Nur ein Mann kannte mein Geheimnis. Es war der Wirt einer miesen Kneipe in der Swandam Lane, wo ich abzusteigen pflegte, jeden Morgen als schmutziger Bettler hervorging und mich am Abend in einen gut angezogenen Geschäftsmann zurückverwandelte. Dieser Bursche, ein Laskar, wurde von mir für das Zimmer reichlich bezahlt, so daß ich seiner sicher sein konnte. Sehr bald stellte ich fest, daß ich beachtliche Summen sparen konnte. Ich will nicht sagen, daß jeder Bettler in den Straßen Londons im Jahr siebenhundert Pfund verdienen kann - was weniger ist als meine durchschnittliche Einnahme, aber ich hatte ja außergewöhnliche Vorteile durch meine Schminkkunst und auch durch meine Schlagfertigkeit, die in der Praxis wuchs und mich zu einem Original der City machte. Jeden Tag ergoß sich ein Strom von Pennies und Silber über mich und das war ein sehr schlechter Tag, wenn ich nicht zwei Pfund bekam. Ich wurde reicher und damit auch ehrgeiziger, kaufte ein Haus auf dem Land und heiratete, als sich die Gelegenheit bot und niemand hatte eine Ahnung, womit ich mein Geld verdiente. Meine Frau wußte, daß ich in der City Geschäfte tätigte, aber nicht, worum es sich handelte. Am letzten Montag hatte ich gerade meine Arbeit beendet und zog mich in meinem Zimmer über der Opiumhöhle an, als ich durchs Fenster zu meinem Schrecken und Erstaunen sah, daß meine Frau in der Straße stand, die Augen fest auf mich gerichtet. Ich schrie vor Überraschung, warf die Arme hoch, um das Gesicht zu bedecken, stürzte zu meinem Vertrauten, dem Laskar, und bat ihn eindringlich, jeden am Heraufkommen zu hindern. Ich hörte unten ihre Stimme, aber ich wußte, daß man sie nicht herauflassen würde. Schnell warf ich meine Kleider ab, zog die Bettlersachen über, schminkte mich und setzte die Perücke auf. Sogar das Auge der Ehefrau konnte eine so vollständige Verkleidung nicht durchdringen. Aber dann fiel mir ein, daß man das Zimmer durchsuchen könnte und die Kleider mich verraten würden.

Ich riß das Fenster auf, und durch die Hast öffnete sich wieder eine kleine Wunde, die ich mir am Morgen im Schlafzimmer zugezogen hatte. Dann packte ich den Rock. Er war schwer von den Kupfermünzen, die ich zuvor aus dem ledernen Beutel, in dem ich die Einnahmen mit mir trage, in die Taschen gesteckt hatte. Ich schleuderte ihn hinaus und er verschwand in der Themse. Die anderen Kleidungsstücke wären gefolgt, aber in dem Moment hörte ich von der Treppe die Constabler und einige Minuten später sah ich mich anstatt als Mr. Neville St. Clair identifiziert als dessen Mörder verhaftet. Ein Umstand, das muß ich gestehen, der mich eher erleichterte. Ich weiß nicht, ob es noch etwas zu erklären gibt. Ich war entschlossen, so lange wie möglich an meiner Verkleidung festzuhalten. Ich zog ein schmutziges Gesicht vor. Da ich wußte, daß meine Frau schrecklich besorgt sein würde, nahm ich den Ring ab und vertraute ihn dem Laskar an, als mich kein Konstabler beobachtete, und kritzelte eilig ein paar Worte, die ihr sagen sollten, daß sie keine Angst zu haben brauchte."

"Die haben sie erst gestern erreicht", sagte Holmes. "Mein Gott! Was für eine Woche muß sie verbracht haben!"

"Die Polizei hat den Laskar überwacht", sagte Inspektor Bradstreet. "So erklärt es sich, daß es für ihn schwierig war, einen Brief unbemerkt abzuschicken. Wahrscheinlich hat er ihn einem Seemann unter seinen Kunden gegeben, der die Sache dann einige Tage lang vergaß."

"So war es zweifellos", sagte Holmes und nickte zustimmend. "Aber sind Sie denn nie wegen Bettelei verurteilt worden?"

"Oft. Aber was bedeutete für mich schon eine Geldstrafe?"

"Das muß aber nun ein Ende haben", sagte Bradstreet. "Wenn die Polizei die Sache vertuschen soll, dann darf es keinen Hugh Boone mehr geben."

"Das habe ich mir mit den heiligsten Eiden geschworen."

"In dem Falle, denke ich, werden wahrscheinlich keine weiteren Schritte unternommen, Aber wenn man Sie noch einmal erwischt, kommt alles heraus. Wir, Mr. Holmes, stecken sehr tief in Ihrer Schuld, weil Sie die Sache aufgeklärt haben. Ich wünsche, ich wüßte, wie Sie zu dem Ergebnis gekommen sind."

"Diesmal bin ich dazu gekommen", sagte mein Freund, "indem ich mich auf fünf Kissen gesetzt und eine Unze Shag verbraucht habe. Ich denke, Watson, wenn wir jetzt fahren, werden wir gerade, rechtzeitig zum Frühstück in der Baker Street sein."

 

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